1 Vorbemerkung

Die kollektive Krise, in der wir uns derzeit befinden, fordert dazu auf, sich über Ursachen, Zusammenhänge, Auswirkungen und über Zukunftsperspektiven Gedanken zu machen. Die Krise betrifft im Prinzip alle Lebensbereiche und wird auch von allen Menschen als solche wahrgenommen, da wir alle von ihren Auswirkungen betroffen sind. Wir sind nun genötigt, uns mit Themen auseinanderzusetzen, denen wir vielfach gerne aus dem Weg gehen, sei es aus Angst, Bequemlichkeit oder Vermeidung von Veränderungen, deren Notwendigkeit wir aber insgeheim wissen – v. a. im Umgang mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen. Durch die aktuelle Virus-Pandemie entsteht die paradoxe Situation, dass einerseits manche Wirtschaftsabläufe und manche Menschen zu einer „radikalen Entschleunigung“ (Rosa 2020) genötigt werden – was allerdings für viele, z. B. Eltern im Homeoffice mit kleinen Kindern, wohl gar nicht zutreffen wird –, und dass andererseits auf diese Weise Entwicklungen vielleicht beschleunigt werden, die im Verborgenen schon längst anstehen und denen wir nun nicht mehr ausweichen können. Kocka (2020) spricht von der Krise als einem „Motor der Beschleunigung“ – eine These, die mit einem Blick in die europäische Geschichte an Plausibilität gewinnt: So wurde z. B. durch die Pest-Pandemie von 1348 die Krise der mittelalterlichen Weltordnung und der Übergang zu Humanismus und Renaissance verstärkt und beschleunigt (vgl. Bergdolt 2006).

Der Zukunftsforscher Matthias Horx vertrat bereits Mitte März 2020 die These, dass es keine Rückkehr zu einer Normalität vor der Krise geben werde: „Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert. Wir nennen sie Bifurkationen. Oder Tiefenkrisen. Diese Zeiten sind jetzt. Die Welt as we know it löst sich gerade auf. Aber dahinter fügt sich eine neue Welt zusammen, deren Formung wir zumindest erahnen können“ (Horx 2020). Oder wie Beate Fietze im Editorial zum Heft 2/20 dieser Zeitschrift schrieb: „Die Erfahrungen in der Krise werden wohl zu veränderten gesellschaftlichen Selbstwahrnehmungen führen und möglicherweise – je nach Dauer der Krise – als formative Phase wirksam werden, die neue gesellschaftliche Wertorientierungen, Positionierungen, Bündnisse oder aber auch neue Konfliktlinien hervorbringt. Die Resultate lassen sich heute noch nicht absehen und müssen gerade deshalb in der gesellschaftlichen Reflexion und Diskussion darüber antizipiert werden“ (Fietze 2020, S. 136).

Solche Zukunftsperspektiven können mit positiven und mit negativen Erwartungen, mit Hoffnungen und Befürchtungen verbunden sein. In jedem Fall sind wir derzeit einem hohen Maß an Ungewissheit ausgesetzt, wie sich die Krise gesellschaftlich auswirken wird und was die Chance hat, eine „neue Normalität“ zu werden. Wir wissen nicht, wie sich das geforderte „social distancing“ kurz- und langfristig auf das soziale Zugehörigkeitsgefühl auswirken wird oder wie ein Vertrauen zwischen Mitmenschen als Bedingung für sozialen Zusammenhalt entstehen kann, wenn derzeit die Nähe eines jeden anderen Menschen als potenzielle Bedrohung erlebt wird. Wir wissen nicht, ob sich möglicherweise ein Trend zu einer Retraditionalisierung der Geschlechterrollen zeigen wird, wenn Frauen im Homeoffice auch für die Beschulung ihrer Kinder die Verantwortung übernehmen (Allmendinger 2020); oder ob zudem der gesamte Sozialbereich nachhaltig beschädigt wird, insbesondere der Schutz von Kindern und Jugendlichen. Ebenso wenig wissen wir, ob vielleicht durch den Verlust von manchen gewohnten Lebensumständen und durch den Verzicht auf manchen gewohnten Konsum nicht nur aktuell, sondern auch langfristig neue kreative Entwicklungen entstehen können. Manche Zeitgenossen machen derzeit z. B. die paradoxe Erfahrung, dass sie trotz oder wegen der erzwungenen körperlichen Distanz eine neue Nähe zu anderen finden oder Verbindungen intensivieren. Noch einmal Horx (2020): „So erweist sich: Wandel beginnt als verändertes Muster von Erwartungen, von Wahr-Nehmungen und Welt-Verbindungen. Dabei ist es manchmal gerade der Bruch mit den Routinen, dem Gewohnten, der unseren Zukunfts-Sinn wieder freisetzt: die Vorstellung und Gewissheit, dass alles ganz anders sein könnte – auch im Besseren.“ Und Bernd Ulrich (2020) mahnt in der ZEIT (Nr. 22, 20.05.2020): „Wer jetzt nicht damit beginnt, eine resiliente, nachhaltige, schonende Gesellschaft aufzubauen, der macht uns zu Kollateral-Sklaven unseres eigenen Handelns. Das Zeitalter der Schonung hat – hoffentlich – begonnen.“

Um für solche neue Ausrichtungen in unserer Gesellschaft und speziell in unseren Arbeitswelten vorbereitet zu sein, sollten wir Coaches uns Gedanken machen, was auf uns zukommen kann: Mit welchen neuartigen Problemen, Konflikten oder Veränderungsbedürfnissen und mit welchen neuen Ambivalenzen können wir rechnen? Und welche besonderen Akzente können wir im Kontext von Coaching setzen? Hierbei ist zu unterscheiden zwischen Trends in der Gesellschaft und in den Arbeitswelten, die schon lange erkennbar sind und nun in der Krise eine Intensivierung oder Beschleunigung erfahren, und andererseits möglicherweise ganz neuen Entwicklungen. Dazu gibt es zweifellos einen großen Forschungsbedarf, etwa über die Auswirkungen der sich verändernden, flexibleren Arbeitsformen und die Umgangsweisen damit, wie etwa die zunehmende Nutzung von Homeoffice-ZeitenFootnote 1.

Ich schreibe diesen Diskurs in Thesenform, um damit zu betonen, dass es sich nicht um ein in sich schlüssiges, abgerundetes Konzept handeln kann, sondern um Annäherungsversuche, Mutmaßungen, Assoziationen, und zumeist ist mit unterschiedlichen Wahrnehmungen und mit vielfältigen Ambivalenzen zu rechnen. Die Thesen sind durchweg in der Möglichkeitsform gedacht und sollen allerdings zu weiteren Reflexionen anregen.

2 Aspekte einer Situationsbeschreibung

Dieser Abschnitt ist in ähnlicher Form erschienen in der Zeitschrift Familiendynamik, 45 (3), 2020; https://doi.org/10.21706/fd-45-3-0000

Wie lässt sich die inzwischen weltweit wirksame Krisensituation beschreiben und verstehen? Die folgenden psychologischen Überlegungen sind ein Versuch.

(1) Krisengefühl:

Das kollektive Krisengefühl, das uns derzeit beherrscht, ist älter als die Corona-Krise. So kann man vermuten, dass die (durchaus angemessene) Angst vor dem Virus eine Verschiebung darstellt, als würden sich an der Angst vor der Ausbreitung dieses Virus viel tiefere Ängste festmachen, die uns schon länger beherrschen, insbesondere die Angst vor den eskalierenden Auswirkungen der Naturzerstörung und des Klimawandels, die weltweit festzustellen sind. Diese Debatte gerät derzeit leider aus dem Fokus, denn der Klimawandel wird sicher noch viel mehr Tote kosten; aber da glaubt die Politik den Wissenschaftlern offenbar nicht.

(2) Kollektive Panik:

Die gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen scheinen den Charakter einer kollektiven Panik anzunehmen. Damit ist nicht gemeint, dass es keine reale Bedrohung durch das Corona-Virus gäbe, sondern eine spezifische Art der Reaktion auf diese Bedrohung (wobei es nicht ganz unproblematisch ist, individuelle Reaktionsmuster auf kollektive zu übertragen). Merkmale einer Panik sind darin zu sehen, dass Menschen von einem Gefühl der Bedrohung überflutet werden, ohne eine Möglichkeit der Kontrolle darüber zu verspüren. Rosa (2020) spricht von dem Erleben einer „monströsen Unverfügbarkeit“, das wir üblicherweise mit unseren Formen der Weltbeherrschung zu vermeiden suchen und das nun durch das Virus wiederkehrt. Das Virus wird als eine nicht menschengemachte, nicht kontrollierbare fremde Macht wahrgenommen, – auch wenn Experten durchaus einen Zusammenhang mit dem menschengemachten Klimawandel erkennen. Kocka (2020) betont: Die Corona-Pandemie ist „jüngstes Resultat unserer langen Geschichte menschengemachter Verformungen der Natur und zugleich eine Warnung vor viel größeren umwelt- und klimabedingten Katastrophen in der Zukunft.“ Da wir Menschen offenbar seit je erst dann zu grundlegenden Veränderungen bereit sind, wenn uns „das Wasser bis zum Hals steht“, sollten wir diese „Warnung“ sehr ernst nehmen.

(3) Bedrohung des Kontrollgefühls:

Dass der Klimawandel menschengemacht ist, wissen wir im Prinzip alle; und wir wissen eigentlich auch, dass wir unser Verhalten individuell und kollektiv, privat und in der Art des Wirtschaftens grundlegend verändern müssten, um die bedrohlichen Entwicklungen aufzuhalten. Das tun wir aber nicht – die Art, zu wirtschaften, zu konsumieren, unbegrenzt weltweit zu reisen, immer größere Autos auf Autobahnen ohne allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung zu fahren und generell die natürlichen Ressourcen zu verschwenden, hat sich in ihrem Ausmaß kaum geändert. Das Wissen, dass dies alles auf unser Handeln zurückzuführen ist, impliziert das Gefühl, diesen Wandel im Prinzip auch kontrollieren zu können. Und durch inzwischen zahlreiche kleinere Veränderungen bestätigen wir uns dieses Gefühl, wie z. B. neue Energiequellen, E‑Mobilität usw. Diese Aktivitäten haben aber vielleicht nur die Funktion, das Kontrollgefühl bzw. die Illusion der unbegrenzten Machbarkeit (bzw. die narzisstische Allmachtsphantasie) aufrechtzuerhalten, um ansonsten wie gewohnt weiterzuwirtschaften. Im Grunde vermeiden wir es anzuerkennen, dass wir schon lange mit einem Kontrollgefühl leben, das eigentlich illusorisch ist. Wir brauchen dies aber, um unser Leben ungeniert weiter so gestalten zu können wie bisher. Gleichzeit erleben wir, dass dieses Vermeidungsverhalten nicht funktioniert bzw. unsere Kontrollbemühungen nicht ausreichen und dass uns die Kontrolle über die Klimaentwicklung entgleitet. Wir erleben also einen kollektiven Verlust des Kontrollgefühls, welcher einer narzisstischen Kränkung gleichkommt: „Wir schaffen das – nun doch nicht“.

(4) Angst vor der Unkontrollierbarkeit:

In dieser Befindlichkeit bietet sich das Corona-Virus an, daran die Angst vor der Unkontrollierbarkeit festzumachen: Es wird als nicht menschengemacht wahrgenommen, als würde es nicht unserer Verantwortung unterliegen. Die bisher nicht vorstellbaren politischen und gesellschaftlichen Bemühungen, es durch Einschränkungen unseres privaten, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens einzugrenzen und zu bewältigen, erscheinen wie ein Stellvertreterkampf für die viel weitergehenden Einschränkungen, denen wir uns eigentlich aussetzen müssten. Hamsterkäufe scheinen ein irrationaler Versuch zu sein, etwas in der Kontrolle zu behalten. (Dazu sei angemerkt, dass das zeitweilige landesweite Horten von Toilettenpapier sich vielleicht als Hinweis auf eine Regression in die „anale Entwicklungsphase“, d. h. in die früheste Erfahrung des Kontrolllernens verstehen lässt, also als regressiver Versuch, ein Kontrollgefühl aufrechtzuerhalten.) Eine andere Form, die Unkontrollierbarkeit mental zu kontrollieren, ist in den Verschwörungstheorien zu sehen – als könnte man die Bedrohung beherrschen, wenn man ihre Verursacher wüsste, wie absurd auch immer deren „Absichten“ konstruiert werden. (In den Pest-Zeiten des 14. Jahrhunderts haben „Verschwörungstheoretiker“ die Juden als „Brunnenvergifter“ beschuldigt und in Pogromen verfolgt und ermordet; vgl. Bergdolt 2006, S. 65 ff.)

(5) Krise als Chance der Veränderung:

Dieses plötzlich über uns hereingebrochene Krisen-Szenario bietet eine Chance, über die Bewältigung dieser Pandemie hinaus die lebensnotwendigen Veränderungen anzugehen – etwa durch das nun aufgezwungene Erleben, worauf wir alles verzichten können. So wie uns in den 1980er Jahren das HIV-Virus gezwungen hat, die Gewohnheiten einer grenzenlosen Sexualität zu verändern, so sind wir nun aufgefordert, z. B. unsere Gewohnheiten einer grenzenlosen Mobilität zu verändern, ebenso wie die Gewohnheiten einer grenzenlosen Verfügbarkeit von allen erdenklichen Konsumgütern und eines grenzenlosen Wirtschaftswachstums (die „Grenzen des Wachstums“ wurden ja bereits 1972 vom Club of Rome zum Thema gemacht). Vielleicht können wir die aufgezwungene Krisensituation nutzen, um das Wissen, das wir – wie gesagt – im Prinzip alle haben, zu einem gefühlsmäßigen Erleben werden zu lassen, aus dem endlich die Motivation für veränderte Haltungen und Verhaltensweisen erwachsen kann. Diese bestehen nicht allein in einem Verzicht, sondern vielmehr in der Achtsamkeit für die Auswirkungen unseres Handelns und dafür, was wir wirklich für ein gelingendes Leben sinnvollerweise benötigen.

3 Herausforderungen in den zukünftigen Arbeitswelten

Welche Herausforderungen können auf uns zukommen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen? Die folgenden Thesen betreffen zumeist schon länger bestehende Trends, die nun aber eine verstärkte Aufmerksamkeit verlangen.

(1) Rückgang der Arbeit:

Generell wird es vermutlich immer weniger zu arbeiten geben. Wenn/falls der allgemeine Konsum zurückgeht, wird weniger produziert werden; außerdem werden viele Tätigkeiten von Maschinen bzw. Robotern übernommen werden, Künstliche Intelligenz wird in der Bedeutung zunehmen (Kingwell 2018, S. 35 ff.). Dies wird nicht nur den Arbeitsmarkt umkrempeln, sondern auch die Befindlichkeit der Arbeitenden beeinflussen: Wenn „nach der Arbeit“ (so der Titel des Buches von Kingwell) ein „Zeitalter des Müßiggangs beginnen“ würde, könnte der „Traum der Emanzipation vom geregelten Achtstunden-Arbeitstag“ Realität werden; aber dann lautet „die dunklere Wahrheit (…) womöglich, dass das Leben für uns seinen Sinn verlieren könnte, wenn wir keine Arbeit mehr haben, die unsere Welt der Bedeutung strukturiert“ (ebd., S. 90 f.). Die gesellschaftlichen Auswirkungen von massenhafter Arbeitslosigkeit, auch bei finanzieller Grundsicherung (z. B. durch ein bedingungsloses Grundeinkommen) wären gesondert zu erörtern.

(2) Umverteilung der Bewertung von Arbeit:

Viele Tätigkeiten werden evtl. neu bewertet werden – wenn z. B. manche technische, automatisierbare Tätigkeiten geringer und beziehungsorientierte Tätigkeiten höher bewertet werden (aktuell: alle pflegenden und helfenden bzw. kommunikationsorientierten Berufe). Dies wird in der aktuellen Krisensituation immerhin thematisiert, ob es tatsächlich passieren wird, bleibt allerdings fraglich.

(3) Digitalisierung:

Auf der einen Seite werden die Entwicklungen von digitalisierten Arbeitsprozessen weiterhin zunehmen, sie werden sich beschleunigen und verbreitern. Auf der anderen Seite kann man mit Horx vermuten, dass sich das „Verhältnis zwischen Technologie und Kultur“ verschieben wird: „Vor der Krise schien Technologie das Allheilmittel, Träger aller Utopien. Kein Mensch – oder nur noch wenige Hartgesottene – glauben heute noch an die große digitale Erlösung“ (Horx 2020). Und Hampe betont in seinem Essay über die „Dritte Aufklärung“: „Gewaltfreie intensive Erfahrungen und Mündigkeit entstehen in Bildungsprozessen. Bildung ist das Resultat von persönlichen und kollektiven Anstrengungen. Keine Maschine kann uns bilden“ (Hampe 2018, S. 83).

(4) Regionalisierung vs. Globalisierung:

Handwerk und lokale bzw. regionale Produktionsprozesse können eine neue Aufwertung erleben (vgl. Horx 2020). Auslöser dafür könnte das Desaster sein, dass bestimmte Produkte oder Produktionsschritte, die nach Indien oder China verlagert wurden, nun in der Krise plötzlich nicht mehr verfügbar sind (z. B. bestimmte Medikamente). Der Trend zu globalen Vernetzungen wird sicher nicht gänzlich rückgängig gemacht werden, und das wäre auch nicht erstrebenswert, wie z. B. die aktuelle weltweit vernetzte Bemühung um einen Corona-Impfstoff zeigt. Aber der Trend kann in seinen Auswirkungen evtl. durch eine Aufwertung von regionalen Vernetzungen und Produktketten ein Gegengewicht erfahren. Eine paradoxe Situation: Durch die Globalisierung konnte das Corona-Virus in kürzester Zeit sich weltweit verbreiten, und zugleich entstanden weltweite Kooperationen (mehr oder weniger verlässlich), um es zu bekämpfen.

(5) Risikobereitschaft:

In vielen Tätigkeitsfeldern könnte den Berufstätigen eine viel größere Risikobereitschaft abverlangt werden. Stabile wirtschaftliche Entwicklungen und stabile Arbeitsverhältnisse werden abnehmen (vgl. Beck 1986). Dem entspricht der Begriff „Arbeitskraftunternehmer“, den Voß und Prongratz (1998) eingeführt haben; er beschreibt einen Typus von individualisierten Berufstätigen mit einem hohen Maß an Selbstmanagement, Selbst-Ökonomisierung, Selbst-Rationalisierung – mit der steigenden Gefahr einer Selbst-Ausbeutung.

(6) Homeoffice:

Berufliche Arbeit wird zunehmend ins Homeoffice verlegt. Zurzeit machen viele Unternehmen und ihre Mitarbeiter/innen die Erfahrung, dass es besser funktioniert als erwartet; andere werden demgegenüber vielleicht eher die Schattenseiten eines Homeoffice erleben. Wir werden uns mit neuen Konflikten und Ambivalenzen auseinandersetzen müssen, die mit solchen Entwicklungen einhergehen. Dies zeigt z. B. der sogleich einsetzende Widerspruch gegenüber der Gesetzesinitiative des derzeitigen Arbeitsministers, ein Recht auf Homeoffice gesetzlich zu regeln (Stand 27.04.2020).

(7) Individualisierung:

Der von Ulrich Beck bereits 1986 konstatierte Trend zu einer Individualisierung von Lebenslagen und Biographiemustern („Risikogesellschaft“; Beck 1986) dürfte eine neue Zuspitzung erfahren. „Individualisierung“ wird sich dann nicht nur auf Lebensläufe und Berufsbiographien beziehen, sondern auch auf Arbeitsformen zwischen Büro und Homeoffice, auf eine flexible Gestaltung der Arbeitszeit, auf flexible Teamsituationen zwischen festen Teamstrukturen und projektbezogenen Teamzusammensetzungen. Auch hier müssen wir mit Ambivalenzen rechnen: Was die einen als Möglichkeit der freien Arbeitsgestaltung begrüßen werden, wird von anderen als Belastung erlebt, als Verlust von klaren Zugehörigkeiten und verlässlichen Leistungs- und Zeitvorgaben. Individualisierung kann für manche Menschen zu Vereinzelung und zu Vereinsamung führen.

4 Auswirkungen auf die Berufstätigen mit zunehmendem Homeoffice

Auch wenn die teilweise Verlagerung der beruflichen Arbeit aus dem Büro ins Homeoffice kein neuer Trend ist, lassen sich bezüglich langfristiger Auswirkungen auf die Berufstätigen zunächst nur Vermutungen formulieren. Es wird einige Forschungen verlangen, um die Vor- und Nachteile für Berufstätige und ihre Familien und sicher auch ganz unterschiedliche individuelle Bedürfnisse und Ressourcen dafür zu erfassen. Derzeit sammeln viele ihre Erfahrungen mit dem Homeoffice, die auch bereits beforscht werden (vgl. Anm. 2). Mit den daraus folgenden Ambivalenzen müssen wir umzugehen lernen und uns darauf mental und organisatorisch vorbereiten. Die folgenden Thesen sind mögliche Fragestellungen.

(1) Selbststrukturierung:

Die Strukturierung der Arbeitsprozesse muss weitgehend selbst geleistet werden. Dies verlangt also eine verstärkte Eigenmotivation und Selbststrukturierung. Dazu braucht man ein hinreichendes Maß an Autonomie und Verantwortungsbewusstsein sowie eine gute Balance zwischen reflektierter Selbstbezüglichkeit und Offenheit für die Herausforderungen durch die jeweiligen Arbeitsaufgaben.

(2) Entgrenzung der Arbeit:

Die Abgrenzung von beruflichen und privaten Lebensbereichen muss neu verstanden und strukturiert werden. „Entgrenzung der Arbeit“ ist zwar schon seit einiger Zeit ein Thema bzw. ein diskutiertes Problem (vgl. Pongratz und Voß 2003), aber es wird eine neue Zuspitzung erfahren und neue Formen der Abgrenzung verlangen. Einer größeren Freiheit in der Arbeits(zeit)gestaltung (Flexibilisierung, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf) stehen für manche Berufstätige eine Überforderung oder größere Belastungen (wie etwa die der permanenten Erreichbarkeit) gegenüber, mit negativen Auswirkungen für die Individuen und deren Familien. Hinzukommt die Gefahr, durch die Kommunikationsmedien immer erreichbar sein und sofort reagieren zu müssen – sei es als tatsächliche Forderung oder unausgesprochene Erwartung eines Arbeitgebers oder sei es als (bewusster oder unbewusster) Selbstanspruch. Vielleicht wird diese Situation neue gesetzliche, arbeitsrechtliche Bestimmungen verlangen.

(3) Teamstrukturen:

Das Erleben von Kollegialität, von wechselseitiger Unterstützung, von Vertrauen oder Sich Anvertrauen braucht neue Formen. „Es ist schwierig, im Homeoffice zu kommunizieren. Man muss schriftlich präziser und vorsichtiger formulieren, als wenn man miteinander redet“ (Kohse 2020). Es mag hinzukommen, dass gelingende kollegiale Kommunikation und Kooperation auch auf einen informellen Austausch zwischen den Personen angewiesen ist – auf den „Small talk“ in Arbeitspausen, am Kaffeeautomaten, in der Kantine. Die Freiräume dafür werden geringer, je mehr die berufliche Kommunikation durch Medien vermittelt wird. Hier sei auf die Differenz zwischen der „Bindungs- und der Entscheidungskommunikation“ hingewiesen; wenn diese komplett entmischt werden, geht etwas Essenzielles verloren (v. Schlippe und Schweitzer 2019, S. 152 ff.).

(4) Medienkompetenz:

Wenn die betriebliche Kommunikation verstärkt auf die verschiedenen Kommunikationsmedien verlagert wird (Telefon, Skype, E‑Mail, Video-Konferenzen usw.), kann sich ein weiteres Problem zeigen: Der Umgang damit ist nicht allein eine Frage der technischen Kompetenz, die heute von den meisten Menschen leicht zu erwerben ist, sondern auch eine Frage der psychischen Verarbeitungskompetenz, die sich nicht so ohne weiteres aneignen lässt. Von manchen Personen werden z. B. eine Video-Konferenz oder ein längeres fachliches Telefonat als sehr viel anstrengender erlebt als eine Face-to-face-Situation. Der Organisationssoziologe Stefan Kühl (2020) betont, dass bei internetbasierten Interaktionen eine durchaus effektive „Fokussierung auf die Sachdimension (…) durch erhebliche Verluste von Informationen in der Sozialdimension“ erkauft ist. „Deswegen lassen sich Interaktionen unter Abwesenden häufig nicht genauso lange durchhalten wie Interaktionen unter Anwesenden.“ Auch hier zeigt sich die Bedeutung von informellen Kommunikationsmöglichkeiten: Nach einem anstrengenden oder inneren Stress erzeugenden Telefonat bzw. einer Video-Konferenz braucht man Freiräume für einen Austausch mit resonanzbereiten Gesprächspartner/innen, um sich entlasten oder das eigene Erleben relativieren und verarbeiten zu können.

(5) Ressourcen des Selbstwertgefühls und des Sinnerlebens:

Das ubiquitäre Bedürfnis nach Anerkennung, d. h. in dem Wert seines Tuns und seines Seins gesehen und bestätigt zu werden, kann – im günstigen Fall – in guten Arbeitsbeziehungen bzw. Teamsituationen befriedigt werden. Bei einer zunehmenden Vereinzelung der Arbeitssituation können hier Defizite entstehen, die ggf. mit neuen Ausdrucksformen der Anerkennung aufgefangen werden müssten. Denn das Wertgefühl einer Person besteht generell nicht allein in einem Wissen bzw. Bewusstsein des eigenen Wertes, sondern vielmehr in einem gefühlsmäßigen Erleben zwischen Menschen. Dazu sei auf das Konzept der „Resonanz“ von Hartmut Rosa (2016) hingewiesen, die immer auch ein leibliches Erleben ist. Auch das individuelle Sinnerleben basiert u. a. auf der Zugehörigkeit zu einem Unternehmen, dessen Werte man für sich übernimmt (vgl. das Konzept „psychological ownership“, Pierce et al. 2001), zu einem Team von Kolleg/innen, die man hinreichend gut kennt (und von denen man gekannt wird), zu einer Professional Community usw. Bei diesem Themenkomplex muss man allerdings mit großen individuellen Unterschieden rechnen – von Personen mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen in unterschiedlichen unternehmerischen Situationen und Kontexten.

(6) Führungskonzepte:

Konzepte und Methoden von Management, Führung, Personalführung, Kontrolle werden sich weiter verändern. Auch hierzu werden seit langem neue Ansätze diskutiert und erprobt, z. B. mit neuen Verhältnisbestimmungen zwischen Team und Führung (vgl. OSC Heft 2/20). Während ein „Postheroisches Management“ schon seit etlichen Jahren thematisiert wird (vgl. z. B. Baecker 2015), dürfte in den zukünftigen Arbeitswelten eine dialogische Führungshaltung und Führungspraxis an Bedeutung gewinnen – auch diese Entwicklungen sind nicht neu, können aber durch die aktuelle Krise eine Beschleunigung erleben. „Inzwischen hat man Hierarchien radikal abgeflacht, teamförmige Arbeitsformen sind im Vormarsch, netzwerkartige Kooperationsmuster koordinieren bereichsübergreifend die erforderlichen Abstimmungsprozesse“ (Wimmer 2016, S. 302). Generell wird das Verhältnis zwischen Kontrolle und Vertrauen neu austariert werden müssen, man benötigt „eine stabile Vertrauenskultur“, „eine Kultur des Miteinanders (…), die auf dem Vertrauen basiert, dass keiner der Beteiligten (verdeckt oder offen) auf sein Machtpotential zurückgreifen muss“ (ebd., S. 304). In der Praxis stellt sich die Frage, in welcher Form Vorgesetzte ihre Mitarbeiter/innen anleiten, motivieren und unterstützen können, wie Arbeitsaufträge übermittelt und Arbeitsprozesse und -ergebnisse kontrolliert werden können. Weiterhin ist zu klären, wie und in welchen Grenzen Mitarbeiter/innen von ihren Führungskräften verlässlich erreichbar sein können und umgekehrt.

(7) Arbeits-Welt vs. private Welt:

„Produktive Arbeit“ und „reproduktive Arbeit“ werden traditionell dem Spannungsfeld Beruf vs. Privat zugeordnet und finden in sozial und räumlich getrennten Sphären statt. Dies ändert sich im Homeoffice mit möglicherweise ambivalenten Auswirkungen auf die psychische Verfassung. „Die unsichtbare, aber doch handfest greifbare Uniform, die sich all die Jahre beim Betreten des Arbeitsplatzes ganz von selbst über das private Ich gelegt, es für die Fährnisse des Büroalltags in Form gebracht und ordentlich zugeknöpft hat, materialisiert sich nicht, wenn man lediglich drei Schritte vom Bett hinüber zum Computer schlurft“ (Kohse 2020, S. 10). Wenn diese Sphären nicht getrennt sind, müssen Berufstätige sich neue Abgrenzungsmöglichkeiten schaffen, damit die berufliche Arbeit nicht das ganze Leben dominiert und die anderen Lebensbereiche in ihrem Eigenwert geschützt werden können. Nicht zuletzt sind die Auswirkungen eines Homeoffice auf Partnerschaft und Familie zu bedenken – für kleine Kinder ist es oft schwer nachvollziehbar, wenn Papa oder Mama zwar räumlich präsent, aber doch nicht erreichbar sind.

(8) Retraditionalisierung der Geschlechterrollen:

Die Soziologin Jutta Allmendinger (2020) weist auf die Gefahr hin, dass in der aktuellen Krisensituation traditionelle Rollenklischees wieder stärker wirksam werden, wenn Frauen im Homeoffice quasi automatisch auch für Kinder und Küche zuständig sind. „Die Menschen rutschen zurück in alte Gewohnheiten, in überlieferte und immer wieder fortgeschriebene Routinen. Doch Krisen wirken auch wie ein Brennglas, durch das wir auf festsitzende Erwartungshaltungen, Rollenklischees und vermeintlich überkommene Gepflogenheiten schauen können. Wenn wir aus dem, was wir dann sehen, Taten folgen lassen, haben Krisen durchaus auch etwas Gutes.“

(9) Erleben von Kränkungen:

Kränkungen eines Mitarbeiters in den Räumen der Firma haben eine andere Wirkung, wenn er diese Räume am Abend verlassen kann, als wenn dies per Telefon oder Skype in den eigenen Räumen erlebt wird – dann bleibt eine Kränkung dort möglicherweise präsenter.

5 Themen und Fragestellungen für das Coaching

Aus den ausgeführten Wahrnehmungen der allgemeinen Krisensituation und aus den sich abzeichnenden Entwicklungen lassen sich für die Praxis des Coachings etwa folgende Fragestellungen ableiten. Sie werden zwar weitgehend bestehende Trends widerspiegeln, aber durch die Krise vielleicht eine Intensivierung erfahren.

(1) Die Grundthemen, die im Coaching erörtert werden, bleiben bestehen:

Selbststrukturierung, Selbstreflexivität, kommunikative und soziale Kompetenzen, Besinnung auf die persönlichen Ziele, Sinn-Ressourcen, „Work-Life-Balance“, Balance zwischen Sorge/Verantwortung für Andere/das Unternehmen und der Selbstsorge, Weiterentwicklung der eigenen Kompetenzen. Aktuell müssen wir als Coaches besonders aufmerksam zuhören, was genau die Menschen heute bewegt, wie sie die momentanen Einschränkungen und Veränderungen für sich erleben, welche Sorgen und Ängste, aber auch welche Hoffnungen sie damit verbinden.

(2) Neuorientierung und Stabilisierung:

Nach der Krisenzeit wird für etliche Unternehmen die Aufgabe im Vordergrund stehen, ihr Unternehmen wieder in Gang zu bringen, schrittweise zu Profitabilität zurückzufinden und dabei eine neue Stabilität zu schaffen. Eine Rückbesinnung auf frühere Erfahrungen und Strategien wird vielfach eine Ergänzung durch neue Ideen und Ziele verlangen, um als Unternehmen bzw. als Organisation fortbestehen zu können. Dazu kann Coaching zu einem kreativen Querdenken ermutigen, um nicht in pfadabhängigen Denk- und Verhaltensgewohnheiten stecken zu bleiben.

(3) VUCA-Welt :

Wenn die Stabilität in den äußeren Kontextbedingungen (wirtschaftlichen Entwicklungen, Arbeitsverhältnissen) abnimmt, wird die Frage nach inneren Ressourcen der Stabilität für Wertorientierung, Sinnerleben, Kompetenzentwicklung umso wichtiger. Dabei heißt Stabilität nicht primär Unveränderlichkeit, sondern die Bereitschaft und Fähigkeit zu Flexibilität, Entwicklung, Veränderung, ohne dabei die Kontinuität seines Lebensweges aus dem Blick zu verlieren.

(4) Fürsorgepflicht und Gesundheitsmanagement:

Im Prinzip ist es nichts Neues, dass auch psychisches Wohlbefinden ein betriebliches Gesundheitsthema ist. In dem Maße wie die äußere Stabilität als Rückhalt für die innere Stabilität von Berufstätigen abnimmt, steigt die Verantwortung von Führungskräften, die Ressourcen für eine gesundheitsförderliche Selbststrukturierung zu aktivieren. Dazu kann z. B. eine Ermöglichung von Coaching für alle Mitarbeiter/innen gehören, um einen Freiraum für eine qualifizierte Selbstreflexion zu schaffen, unterstützt durch eine verstehende Resonanz von psychologisch (nicht nur ökonomisch) geschulten Coaches.

(5) Resilienzförderung:

Die Corona-Pandemie führt zu „erheblichen psychischen Belastungen der Bevölkerung“, was erhöhte Raten von depressiven oder posttraumatischen Symptomen bis hin zu Suiziden nach sich ziehen kann; andererseits beobachten die Autoren weithin eine ausgeprägte Resilienz als „die Fähigkeit, trotz Stresssituationen psychisch stabil zu bleiben“ (Lieb und Tüscher 2020). Aber Resilienz ist nicht einfach vorhanden oder nicht, sondern etwas, „das man lernen oder verlernen kann“ (ebd.). Hierin besteht eine herausragende Aufgabe für das Coaching, Resilienzfaktoren herauszufinden und zu bestärken; sie können sowohl im Inneren eines Menschen als auch in den jeweiligen persönlichen und gesellschaftlichen Kontexten bestehen (konkrete Empfehlungen vgl. Schmidt-Lellek 2014). Hier stellt sich auch die Frage nach einer organisationalen Resilienz, „welche Faktoren für einen effektiven Umgang von Organisationen mit kritischen Ereignissen inner- und außerhalb des Unternehmens verantwortlich sind“ (Mohr 2017, S. 131).

(6) Was heißt Karriere:

Möglicherweise wird sich durch die Corona-Krise ein Trend verstärken, der bei der „Generation Y“ oder den „Millenials“ zu beobachten ist, nämlich eine veränderte Bewertung von herkömmlichen Karrieremustern – zwischen einem Aufstieg in einer hierarchischen Organisation und einer Weiterentwicklung eigener spezieller Kompetenzen und seiner Persönlichkeit. Dies muss jedoch nicht unbedingt als sich ausschließender Gegensatz zu verstehen sein, sondern kann auch als Polarität gesehen werden, die unterschiedliche Gewichtungen erlaubt. Gemeinsamer Nenner ist die innere und die äußere Entwicklung eines Menschen. Manchem Unternehmer oder Personaler wird es schwerfallen, sich auf solche veränderten Bewertungen von Karriere einzustellen, was im Coaching reflektiert werden kann (z. B. unter dem Stichwort Mitarbeiterbindung).

(7) Life-Coaching:

Berufliche Themen werden möglicherweise verstärkt mit den Perspektiven des Lebensganzen verknüpft (vgl. Buer und Schmidt-Lellek 2008, S. 32). Dazu gehört ganz wesentlich eine gelingende Balancierung der verschiedenen Lebensbereiche, die ihre je eigene Wertigkeit beinhalten und eine entsprechende Wertschätzung und Pflege benötigen. Dazu zählen neben der beruflichen Arbeit die Bereiche Ehe und Familie, Freundschaften, Verwandtschaft, Hobbies, Sport, kulturelle Aktivitäten, politische Aktivitäten, ehrenamtliche Engagements u.dgl. (Ulich und Wiese 2011, S. 41). Je stärker der Trend zu einer Entgrenzung der beruflichen Arbeit wird, desto wichtiger wird der Schutz der übrigen Lebensbereiche.

(8) Work-Life-Balance,

genauer: „Life Domain Balance“ (Ulich und Wiese 2011), ist in der Folge nicht mehr allein eine Herausforderung für den als autonomes Subjekt gedachten Mitarbeiter, sondern auch aus der Perspektive des Arbeitgebers eine Notwendigkeit. Hierin wird eine neue Aufgabe von Führungskräften bestehen: eine höhere Achtsamkeit für die Balance der Mitarbeiter/innen, um sich nicht nur um ihre Leistungserbringung, sondern auch um die Reproduktion der Leistungsfähigkeit zu kümmern. Letztlich geht es darum, dass die Führung einen Teil der Care-Arbeit übernimmt bzw. einen stabilen Rahmen dafür schafft. Dazu brauchen Führungskräfte viel Reflexion und Selbstaufklärung, z. B. mit Hilfe von Coaching.

(9) Freiberuflichkeit:

Vielleicht wird es einen stärkeren Trend zu Freiberuflichkeit bzw. Solo-Selbstständigkeit geben. Kingwell (2018, S. 88) zitiert eine US-amerikanische Studie, „die vorhersagte, dass im Jahr 2020 40 % der Erwerbstätigen in den USA Freiberufler sein werden“. Coaching kann Freiberuflern einen kontinuierlichen Rahmen für eine reflektierende Begleitung bieten, um das Fehlen von möglichem Feedback durch Vorgesetzte und Kollegen zu kompensieren. Als „Unterstützung von Menschen mit Steuerungsfunktionen“ (Schreyögg 2012, S. 21 ff.) kann Coaching verstärkt die Selbststeuerung von Klienten unterstützen.

(10) Übergreifendes Ziel von Coaching:

Dieses besteht nicht allein in einem guten (bzw. „optimierten“) Funktionieren im Sinne von vorgegebenen Kriterien und einer Anpassung an bestehende Funktionssysteme (dies sind eher Aspekte von Trainings), sondern – darüber hinaus oder als Gegenpol dazu – in einer kreativer Gestaltungskraft im Sinne einer flexiblen Innovationsbereitschaft.

6 Fazit – die „Dritte Aufklärung“

Abschließen möchte ich mit einem Hinweis auf den Essay des Philosophen Michael Hampe (2018) „Die Dritte Aufklärung“ (erschienen in der Schriftenreihe „Diskurse, die wir führen müssen“ des Berliner Nicolai Verlags) und einige Sätze daraus zitieren. Der Autor konstatiert „eine Erosion der aufgeklärten Kultur“ (ebd., S. 9); Symptom dafür sei z. B. das Zunehmen autoritärer Politik in vielen Ländern. Der Autor geht also ebenfalls bereits vor der Corona-Krise von einer tiefgreifenden Krisensituation aus, die eine „Fortsetzung der Aufklärung“ (ebd., S. 82) verlangt.

Die Ideale von Aufklärung sind intellektuelle Mündigkeit sowie Vermeidung von Gewalt bzw. Grausamkeit und von Illusionen. Dies zeigt sich einerseits in der reflektierten Auseinandersetzung mit der äußeren Weltwirklichkeit und andererseits in der Bereitschaft und der Fähigkeit, sich selbst mit seinem Denken, Fühlen und Handeln infrage zu stellen. Aufklärung ist keine spezielle europäische Epoche, sondern eine über die Welt verstreute Bewegung in Wellen, ein permanenter Prozess. Die erste große Welle der Aufklärung in Europa war die sokratische: Gewalt wird durch die argumentative Auseinandersetzung in Konfliktfällen ersetzt. Das vernunftbezogene Argument ersetzt die Faust oder das Schwert. Sokrates und Platon haben sich von dem mythologischen Weltbild abgewandt und dieses durch wissenschaftliche Welterkenntnis ersetzt; dies verlangt einen Abschied von vermeintlichen Gewissheiten und die Anerkennung des Nicht-Wissens, um sich für Erkenntnisprozesse öffnen zu können. Die zweite Aufklärung ist die kantische Mündigkeitsidee, durch die z. B. illegitime Herrschaftsansprüche (des Staates oder der Kirche) hinterfragt werden, und daraus folgend ein verantwortungsbewusstes Weltbürgertum. „Die vor uns liegende Dritte Aufklärung muss die Erkenntnis realisieren, dass wir in einer gemischten Welt leben, in der es sowohl Zufälle wie Notwendigkeiten und auch menschliche Absichten als die Wirklichkeit beeinflussende Faktoren gibt“ (ebd., S. 12). Wir müssen also die „Illusion der Vorherbestimmtheit oder der völligen Unbestimmtheit des Verlaufs menschlicher Angelegenheiten“ hinter uns lassen (ebd.). Bezogen auf unser Thema heißt dies z. B., dass weder die Illusion, alles in der Kontrolle haben zu können, noch die Panik, auf unbeherrschbare Entwicklungen gar keinen Einfluss nehmen zu können, von aufgeklärtem Bewusstsein zeugt.

Gegenwärtig stehen der Aufklärung v. a. zwei Hindernisse im Weg: (1) Ein „mangelndes Bewusstsein für die normativen Auswirkungen des technischen Wandels“, speziell des Internets, mit dem etwa in Windeseile Lügen an Millionen Menschen verbreitet werden könnten und das zudem dazu verleite, Informationssammlung mit Bildung gleichzusetzen. (2) Ein irrationaler Fatalismus, sei er fortschritts- oder untergangsgläubig: Aufklärung bestehe heute in der Befreiung von einem mythischen Geschichtsverständnis, d. h. von einem „irrationalen Glauben an die Zwangsläufigkeit des Fortschritts (oder des Untergangs)“ (ebd., S. 15).

Eine aufgeklärte Haltung bewegt sich in der Spannung zwischen Autonomie und Abhängigkeit: „Weil Menschen in vielfältiger Weise auf andere angewiesen sind, um überleben zu können, müssen sie vertrauen. Doch Vertrauen kann ausgenutzt werden.“ Deswegen ist es „ebenso nötig, sich in Acht zu nehmen“ (ebd., S. 24). Dies verlangt also eine sensible Balance zwischen Vertrauen und Kritik. „Auch die Dritte Aufklärung muss eine Bildungsbewegung sein. Primäres Ziel von Bildung ist nicht die Steigerung von Karrierechancen, die Suche nach Gewissheit, das Speichern von Informationen oder eine abstrakte Entscheidungskompetenz, sondern der Erwerb einer Kreativität, die das individuelle Leben zu einem sinnvollen zu machen und Gemeinschaften eine kulturelle Gestalt zu geben vermag, ohne dass sich dabei Bildungsmandarine wichtigtun müssen“ (ebd., S. 83). Dazu gehört „die Kultivierung der Vielfalt von Wahrheitspraktiken, über die wir schon verfügen, und die Entwicklung eines klaren globalen Bewusstseins, das in der Lage ist, gemeinsame kulturelle Ziele zu entwickeln, an denen möglichst viele teilhaben können“ (ebd., S. 84). Dies mündet in den Appell des Autors: Beteiligt euch! Ihr seid Subjekte der Geschichte, wenn ihr euch nur zusammentut!

In diesem Sinne kann Coaching einen Bildungsauftrag wahrnehmen, nicht durch Belehrung, wohl aber durch ein behutsames Infragestellen von vermeintlichen Gewissheiten und von obsoleten Gewohnheiten, durch das Ermöglichen von freien Reflexionsräumen und vor allem durch Unterstützung und Ermutigung zu einem langfristigen Denken – statt nur kurzfristigem „optimiertem“ Funktionieren – und zu einer Kreativität statt Fatalismus.